Der große Fehlbetrag unserer Zeit

»Ich habe Teta gekannt. Sie war eine alte Frau, untersetzt, rundlich, mit breiten Backenknochen und hellen Vergißmeinnichtaugen, die einen aufmerksamen, eigensinnigen und oft argwöhnischen Ausdruck besaßen.«
»Ich habe Teta gekannt.« So fängt Franz Werfel an und zählt von Tetas Leben, einer gewöhnlichen Magd mit einem festen Glauben und einer ungewöhnlichen Strategie, um ihr himmlisches Heil zu sichern. Vor Jahren hat sie sich nämlich bereit erklärt, den jungen Mojmir finanziell zu unterstützen, damit es dieser bis zum Priesteramt schafft und für Tetas Rechtschaffenheit bürgen kann.
Tatsächlich ist Tetas »Himmel« nicht so sicher, wie sie es glaubt, denn womöglich hat sie ihr Vertrauen in den falschen gesetzt. Ohne Teta je einen Besuch abzustatten, schreibt Mojmir ihr immer wieder Briefe, in denen er unter einem Vorwand um Geld bittet. Die authentisch formulierten Briefe lassen Teta nicht an den Absichten ihres braven Mojmir zweifeln, doch von außen wird man zunehmend skeptischer.
So geht es in der Erzählung um nichts Geringeres als das Heil von Teta; Teta, die einem so sehr ans Herz wächst, mit ihren Eigenheiten, ihrer Leichtgläubigkeit und vielleicht auch Blindheit vor der Realität. Akkordion spielt sie, doch die Vorzeichen sind ihr zu kompliziert. Nichts liegt näher als sie zu ignorieren, auch wenn so manches ein Halbton verschoben ist.
Als österreichische Erzählung thematisiert »Der veruntreute Himmel« den Katholizismus, aber viel mehr das selbsterstellte Abbild der Realität, in dem wir alle leben. So auch Teta, bei der das bedrängende Gefühl entsteht, jemand müsse sie über ihre Naivität aufklären, zeigen, dass ihr Heilsplan veruntreut wird. Teta soll doch die Wahrheit erfahren. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers, einem Schriftsteller, der Teta auf dem Anwesen von Freunden kennenlernt, dringt dieses moralische Pflichtgefühl dicht an einen heran. Doch warnt uns Werfel nicht zu früh zu über Tetas Leichtgläubigkeit zu richten. So sagt Livia, Tetas Chefin, zum Ich-Erzähler:
»Diese Anklage habe ich von dir erwartet, Theo. – Grad die wehleidigsten Männer, die sich vor dem Zahnarzt fürchten, sind ja die unerbittlichsten Moralisten.«
Wie ihre Musik spielt Tetas Leben in einer parallelen Welt, die vielleicht etwas krumm, doch für sie vollkommen in Ordnung ist. Die Augen zu öffnen, zu reflektieren, kann schmerzen, gerade wenn man sein gesamtes Leben darauf hinarbeitet. Wann aber darf und soll man von außen eingreifen, auf das fehlgeleitete Weltbild hinweisen? Eine eindeutige Antwort gibt Werfel nicht, warnt nur davor, allzu eilig die Lebenslügen anderer aufzudecken – zumal wenn man selbst keine Sicherheit über die Wahrheit hat. Leidet Teta denn wirklich darunter? Ihr Lebensstil ist ohnehin sehr sparsam und ihr Glück nicht von Geld abhängig. Wäre da nicht ihr gefährdetes Seelenheil und die Möglichkeit, dass am Ende doch noch die Wahrheit ans Licht kommt.
Auch heute bauen wir uns unsere Vorstellung von der Welt und machen dabei Fehler. Viele politische Auseinandersetzungen streiten nicht über die Ziele, etwa wirtschaftlicher Aufschwung und ein lebenswerteres Leben. Die Unterschiede liegen vielmehr darin, wie man sich die Mechanismen der Welt vorstellt. Die Weltenmodelle in unseren Köpfen, mit denen wir Szenarien durchspielen, sind unterschiedlich. Wir bauen unsere Vorstellung allerdings nicht aus Briefen von Mojmir, sondern aus den Medien, die wir konsumieren, und den Erfahrungen, die wir machen. Wenn dabei einem Medium ein Vertrauensvorschuss gewährt wird, so bricht das die Komplexität der Realität herunter, macht es möglich, glücklich und ohne übermäßige Sorgen zu leben. Ungewissheit wird durch eine Annahme ersetzt, was erstmal nichts Schlechtes heißen muss. So auch Livia zum Ich-Erzähler:
»Je älter ich werd’, Theo, um so fanatischer bekenn’ ich mich zu diesen Lebenslügen. Ein ganz und gar falsches Wort. Es sollte heißen Lebensglauben, oder notwendige Illusion, oder was weiß ich.«
Manchmal entstehen so auch naive Bilder, die von außen absurd scheinen und man verspürt den Drang einzugreifen, seinem Gegenüber zu sagen, das sei Quatsch. Doch ohne eine göttliche Offenbarung ist es unmöglich, Gewissheit über die Wahrheit zu erhalten. Wann also eingreifen? Wann schadet der kleine Lebensglaube?
In einer Welt, in der es leicht ist, in seiner Bubble zu verschwinden oder nur die bequemen Wahrheiten zu beachten, ist dieses Werk wichtiger denn je. Social Media Posts und Fake News haben wie Mojmirs Briefe die Macht, ein falsches Bild der Realität zu erschaffen, und so den Vertrauensvorschuss zu missbrauchen. Der Glaube an seine eigene Realität, wie man sie sich selbst schafft, könnte vergebens sein, der ersehnte Himmel von eigennützigen Fremden veruntreut werden.
Auch ich habe Teta gekannt, denn wir alle sind ein wenig Teta.
Soviel das Buch zum Nachdenken anregt, so mittelmäßig war das Leseerlebnis an sich. Für mich persönlich waren einige Stellen zu langwierig, der Erzählstil etwas angerostet und undurchdacht. Zum Beispiel spielt der Ich-Erzähler nur im ersten Teil eine Rolle, dann verschwindet er, und wir begleiten Teta allein durch ihr Leben. Die Geschichte selbst hat mich gepackt, nur eben die Verpackung nicht. So fiel die Bewertung unmittelbar nach dem Lesen harsch aus, harscher, als es im Nachsinnen über die Themen des Textes vielleicht gerechtfertigt erscheint.